Die Ketsch „Aquijo“ belegt derzeit Platz sechs im Ranking der Superyachten. Wir waren an Bord des Giganten und zeigen Einblicke in eine Superyacht der Superlative
Noch belegt „Aquijo“ mit ihren 85 Meter Länge Platz sechs im Ranking der größten Yachten der Welt. Doch schon in Kürze wird sie einen Rang abrutschen, wenn die Superyacht von Jeff Bezos, „Koru“, mit ihren 127 Metern unter Segel geht. Aber deshalb muss sich der deutsche Großindustrielle, für den die Stahl-Alu-Yacht bei Oceanco und Vitters gebaut wurde, nicht grämen. Superlative weist sie dennoch zuhauf auf. Und sie erfüllte bereits ihren Zweck, ging auf weite Reisen, wie in den Videos am Ende des Artikels zu sehen ist.
Die „Aquijo“ trägt an ihren beiden knapp 90 Meter hohen Carbonmasten maximal fünf Segel (Groß, Besan, Genua, Stagsegel, Code 1), die zusammen eine Fläche von 5.872 Quadratmetern bilden. Weltrekord! Keine Yacht trägt mehr Segellaminat. Alle Segelsysteme inklusive der Schoten, Stage und Winschen wurden für die Superyacht aufwändig berechnet und konstruiert, um den gewaltigen Lasten standhalten zu können, die auf das enorme Rigg wirken. „Auf den Genuaschoten lasten 40 Tonnen, die kaptiven Winschen dafür mussten erst entwickelt werden“, erzählt Designer Bill Tripp auf dem Achterdeck. „Die Masten werden hydraulisch mit 350 Tonnen auf die Fundamentplatten gepresst, auf die Backstagen wirken 73 Tonnen.“
Die technische Herausforderung zum Bau des voluminösen Zweimasters (1.538 Gross Tons) war so groß, dass sich zwei hoch spezialisierte Werften zusammenschließen mussten, um dem segelerfahrenen Eigner seine Traumyacht bauen zu können. „Solch eine Zwangskooperation gab es in der Superyachtbranche noch nie“, erklärt der erste Ingenieur Robert Vadas beim Gang durch den riesigen, lang gestreckten Technikraum. „Alle Segelyacht-Komponenten entwickelte, fertigte und installierte die niederländische Werft Vitters, während der Bau des Rumpfs, Interieurs und aller Motoryacht-Komponenten in den großen Hallen von Oceanco realisiert wurden. In der Bauphase war es dadurch mitunter schwer, den richtigen Ansprechpartner für einige Komponenten zu finden, doch das Resultat ist beeindruckend.“
Oceanco schweißte den Rumpf von Baunummer Y711 aus Stahl, die Aufbauten des Dreideckers entstanden aus Aluminium. Für die nötige Stabilität unter Segeln sorgt ein Liftkiel, mit dem der Tiefgang von maximal 11,60 auf 5,30 Meter reduziert werden kann.
„Der Eigner hatte von Anfang an sehr klare Vorstellungen von seiner neuen Yacht“, sagt Bill Tripp. „Er wollte eine Länge um 85 Meter, zwei Masten, viel Raum für seine Familie und Freunde und vor allen Dingen ein leistungsstarkes Riggpaket, das ihn schnell und sicher segeln lässt.“
Die Masten sind mit knapp 90 Metern so hoch, dass ein Befahren des Panamakanals mit der Superyacht nicht möglich ist, also sollte „Aquijo“ ohne Probleme für das raue Klima und den starken Wind um Kap Hoorn ausgelegt werden. „Bei unseren Worstcase-Kalkulationen mussten wir sicherstellen, dass der Rumpf im Fall eines Knockdowns den gewaltigen Kräften des Riggs sowie des 11,60 Meter tief gehenden Kiels standhält“, erklärt Bill Tripp.
Der Segelplan der Gigaketsch weicht deutlich von gewöhnlichen Ketsch-Konfigurationen ab. „Wir bezeichnen die Yacht intern als ,Sketch‘, eine Mischung aus Schoner und Ketsch, da die beiden Masten fast gleich hoch sind“, so der Designer. „Wir wollten einen Segelplan realisieren, der eine gleichmäßige Verteilung der Segelfläche auf die drei Hauptsegel Genua, Groß und Besan zulässt.“ Um die Masthöhe bei gleicher Segelfläche etwas zu reduzieren, statteten die Designer das Groß- und Besansegel der Superyacht mit weit nach achtern ausgestellten Kopfbereichen aus. „Mit den Fathead-Segeln sparen wir zehn Meter Mast ein, was sich positiv auf den Gewichtsschwerpunkt auswirkt. Zudem sorgen die Latten im Segelkopf für sehr gute Reff-Eigenschaften der Segel.“
Da die Fathead-Segel beim Wenden und Halsen am Achterstag hängen bleiben würden, werden die Masten von Backstagen gehalten, die bei jedem Manöver bedient werden müssen. „Bei einer Yacht dieser Größe bin ich auf erfahrene Segler angewiesen, die genau wissen, was bei jedem Kurswechsel zu tun ist“, sagt der südafrikanische Kapitän Gerhard Veldsman. „Rein technisch könnte ich ,Aquijo‘ auch allein segeln. Das wäre allerdings so, als würde man einen Airbus A380 ohne Co-Piloten fliegen.“
Die sonderangefertigten Schoten und Fallen mit dem Durchmesser eines trainierten Männerunterarms werden über zwölf kaptive Winschen (im Prinzip wie Seilwinden an einem Geländewagen) bedient, die öldruckgesteuert und gut versteckt im Winschenraum arbeiten. Weitere massive Deckswinschen stehen ebenfalls zur Bändigung der gigantischen 3Di-Segel von North Sails bereit.
Dass „Aquijo“ schnell segeln kann, stellte die Superyacht schon wenige Wochen nach der Ablieferung im Sommer 2017 unter Beweis: Bei Windgeschwindigkeiten von 35 Knoten erreichte der Zweimaster bereits 20,4 Knoten, im Schnitt segelte die Kap-Ketsch an diesem Tag 19 Knoten schnell. „Man fühlt sich supersicher an Bord, auch wenn es, wie an diesem Tag, mit mehr als acht Windstärken bläst“, sagt Gerhard Veldsman.
Die Größe der Superyacht hat auch ihre Nachteile. Bis „Aquijo“ segelklar ist, vergeht seine Zeit. „Acht Minuten dauert es, bis Groß, Besan und Genua stehen“, so der erste Ingenieur. „Und für die Wenden brauchen wir etwa drei Minuten, da wir die Genua erst etwas furlen müssen, damit sie um das Stagsegel-Stag flutscht.“
Um dem Eigner und Kapitän eine möglichst direkte und gefühlvolle Steuerung zu ermöglichen, verwirklichten die Vitters-Ingenieure ein System, das die hydrodynamischen Kräfte an den größten Carbon-Ruderblättern der Welt direkt auf die Steuerräder auf der Flybridge überträgt. So spürt der Steuermann in Echtzeit den Ruderdruck und kann darauf reagieren. „Das System arbeitet wirklich eindrucksvoll. Dank der direkten Steuerung fühlt sich ,Aquijo‘ am Steuerrad wie eine deutlich kleinere Yacht an“, zeigt sich auch Bill Tripp begeistert.
Wer das Achterdeck der 14,50 Meter breiten „Aquijo“ betritt, hat im Gegensatz dazu sofort das Gefühl, auf einem Segelriesen zu sein. Dort dominiert ein ausladender Speisetisch, davor befindet sich eine große Bar, die das Achterdeck geschickt mit dem Salon verbindet. Für das Interior-Styling der Superyacht zeichnete das Hamburger Designstudio Dölker + Voges verantwortlich, das eng mit der Gattin des Eigners zusammenarbeitete. „Das Design ist modern-elegant und doch, wie wir finden, natürlich und erfrischend“, sagt Designer Robert Voges. Mutenye-, Eschen- und Teakholz überwiegen auf den drei Decks, Edelstahldetails setzen in fast jedem Raum Akzente.
Die für Segelyachten ungewöhnliche Anzahl an Decks basiert auf dem Wunsch des Eigners, einen großzügigen privaten Bereich über dem Hauptdeck zu haben. „Um das Yachtprofil nicht zu mächtig wirken zu lassen, setzten wir die Brücke auf ein halbes Deck zwischen Eigner- und Hauptdeck.“ Ein gläserner Fahrstuhl verbindet alle Ebenen miteinander. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Segelyacht mit Aufzug entwerfe“, schmunzelt Bill Tripp. „Die ganze Yacht ist übrigens barrierefrei, ein Freund des Eigners sitzt im Rollstuhl und wird häufiger an Bord zu Gast sein.“
Ein Eignerschlafzimmer mit fantastischer Panorama-Aussicht Richtung Heck zählt, wie der große Beachclub- und Spa-Bereich auf dem Unterdeck, zu den absoluten Highlights des ungewöhnlichen Layouts. Ein Skylight im Achterdeck flutet den darunter gelegenen Wellnessbereich inklusive Indoorpool, Sauna, Dampfbad und Lounge-Ecke mit Tageslicht. Wer lieber an der frischen Luft und in der Sonne im Sprudelbad liegt, wählt den Whirlpool auf der Flybridge. Von hier oben gibt es den besten Blick in die Segel und mit den davor gelegenen Steuerständen immer genug Action.
Zwei kardanisch gelagerte Speisetische erlauben auch bei 20 Grad Krängung einen gemütlichen Al-fresco-Lunch. Wem die Aussicht von der Fly nicht reicht, der steigt in den Mastkorb an der Vorderseite des Großmasts und lässt sich bis zur vorletzten Saling in eine Höhe von 75 Metern fahren. Überblick und Adrenalin-Kick garantiert. Die von Lloyd’s Register für maximal zwölf Gäste und eine 17-köpfige Crew zugelassene Superyacht verfügt mit ihren 1.538 Gross Tons über ein Interior-Volumen, das so manche 70-Meter-Motoryacht übertrumpft. Und doch ging es dem Eigner nie darum, mit der Größe seiner Yacht Aufsehen zu erregen.
Die Welt im größtmöglichen Komfort unter Segeln bereisen – so lautete der Startpunkt für dieses unglaubliche Projekt. „Ein Auftrag, der mir einige graue Haare beschert hat“, lacht Bill Tripp. Doch der Aufwand hat sich gelohnt. Mit ihrer gewaltigen Segelfläche von insgesamt 5.872 Quadratmetern bleibt die größte Ketsch der Welt noch lange Zeit an der Spitze der Segelgiganten. Spektakuläre Riesen wie das 106 Meter lange Dyna-Rigg-Projekt „Solar“ oder die 143-Meter-„A“ mögen noch voluminöser sein – Kap Hoorn werden diese Extrem-Entwürfe mit Sicherheit nicht runden. Denn nach wie vor gilt: Wer die berühmt-berüchtigte Landspitze auf der chilenischen Felseninsel Isla Hornos runden möchte, muss aus besonderem Holz geschnitzt sein. Wobei: Stahl, Alu und Kohlefasern tun es mit Sicherheit auch.
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